Am 2.9. erscheint DORIAN HUNTER 85: „Die Lebensuhr“. Der Band stammt vollständig aus der Feder von Catherine Parker, was einen sehr traurigen Grund hat. Denn eigentlich hätte Malte S. Sembten (Rüdiger Silber) den zweiten Teilroman schreiben sollen. Nach seinem Tod hat sich Catherine netterweise dazu bereiterklärt, seinen Teil mit zu übernehmen. Obwohl sie damit doppelt so viel Arbeit hatte wie normal, kann sich das Ergebnis sehen lassen. Deshalb gibt es hier schon mal einen kleinen Ausblick auf den Roman.

Aus den nur spärlichen vorhandenen Laternen sickerte trübes Licht. Nebelfetzen sammelten sich in den Ecken. Der Straßenbelag glänzte feucht.
Salamanda stoppte und lauschte. Ihr außergewöhnlich feines Gehör nahm außer dem sanften Brummen der Triumph kein Motorengeräusch mehr wahr. Hatte sie Brian verloren?
Da zerriss ein panischer Aufschrei die Stille. Rasch wurde er erstickt, doch Salamanda hatte genug gehört. Sie wusste jetzt, wo sie ihn finden würde. Irgendwo dort vorne, bei den alten Werftanlagen musste er abgebogen sein.
Sie ließ das Motorrad neben einem verrosteten Zaun zurück, an dem ein großes „Betreten verboten“-Schild hing. Weit und breit war niemand zu sehen. Selbst in einer Metropole wie London gab es Ecken, an denen man sich einsamer fühlen konnte als auf dem Mond.
Salamanda pirschte sich näher heran. Der Ford stand mit offenem Kofferraumdeckel und ausgeschalteten Scheinwerfern im Hinterhof einer verlassenen Industriebrache. Im Sommer wucherte das Unkraut ringsum bestimmt meterhoch. Heute hatte man freie Sicht auf Stapel von Öltonnen und zersplitterte Paletten. Salamanda duckte sich.
„Na, du kleines Miststück“, sagte Brian. Seine Stimme klang höchst selbstzufrieden. „Du hast mir doch ein bisschen Spaß versprochen. Wie gefällt dir das?“
Er schlug zu, aber nicht fest genug, um die gefesselte Frau bewusstlos zu prügeln. Offenbar kam es ihm darauf an, dass sie genau mitbekam, was ihr drohte. Sie krümmte sich zusammen und würgte hinter dem Knebel, den er ihr verpasst hatte.
„Tja, mit dieser Art Spaß hast du nicht gerechnet, was?“, höhnte Brian.
Sie wimmerte. Die Jacke war aufgerissen, das Top darunter zerfetzt. Blut tropfte von ihrer Schläfe und verklebte ihre Locken, während sie zu ihrem Peiniger aufsah. In ihren Augen flackerte Todesangst. Die Axt lehnte am Hinterrad des Fords.
Salamanda wartete nicht länger.
„He Arschloch“, schrie sie. „Willst du nicht lieber Spaß mit mir haben?“
Sie schnellte aus der Deckung und knallte ihm mit einem gezielten Tritt ihre Stiefelspitze unters Kinn.
Brian war weder sonderlich groß noch muskulös, aber flink. Sehr flink. Salamanda erkannte, dass er früher geboxt haben musste. Er wich so rasch und geschickt nach hinten aus, dass sie ihn zwar traf, aber die Wucht ihres Tritts verlorenging. Augenblicklich hob er die Fäuste.
„Wo kommst du denn so plötzlich her, Schlampe?“
Dummerweise wusste er nicht, dass ihm keine menschliche Gegnerin gegenüberstand, sondern eine kampferprobte Dämonin. Das hämische Grinsen fiel ihm schneller aus dem Gesicht, als er „Uff“ stöhnen konnte, während Salamanda ihm mit beherztem Griff die Eier zerquetschte.
„Ich bin sicher, die brauchst du nicht mehr“, zischte sie.
Mit schmerzverdrehten Augen sank Brian auf die Knie. „Mblll…“
„Gute Nacht, Arschloch.“ Blitzartig riss sie seinen Kopf zur Seite. Knirschend brach das Genick. Salamanda lächelte zufrieden. Dann beugte sie sich über seinen Hals.
Sein Blut schmeckte kaum nach Alkohol, genau wie sie es vermutet hatte. Männer wie Brian berauschten sich lieber an anderen Dingen. Aber damit war es nun vorbei.
Salamanda trank sich satt mit dem sicheren Gefühl, der Welt einen Gefallen getan zu haben. Dieser üble Möchtegern-Killer hatte den Tod verdient. Dorian wäre im Zweifelsfall sogar stolz auf sie gewesen. Sie wusste nicht, ob sie das gut finden sollte.
Voller Genugtuung beendete sie schließlich ihre Mahlzeit und schubste den Leichnam von sich. Höchste Zeit, sich um Brians Opfer zu kümmern. Sie wischte sich einen Rest Blut aus dem Mundwinkel und wandte sich um.
Die gefesselte Hure starrte sie mit schreckgeweiteten Augen an. Ihr Gesicht war kreidebleich. Im fahlen Licht des Mondes wirkte die Haut fast durchscheinend.
„Keine Angst.“ Salamanda ging auf sie zu. „Dieser Dreckskerl kann dir nichts mehr antun.“
Mühelos durchtrennte sie mit ihren dämonenscharfen Fingernägeln die Kabelbinder, mit denen Brian die Rothaarige gefesselt hatte. Dann löste sie den Knebel.
Im selben Moment, da der eklige Lappen zu Boden fiel, begann die Gerettete wild um sich zu schlagen. „Nein! Geh weg!“
Kreischend wehrte sie Salamandas Hand ab, mit der die Dämonin ihr aufhelfen wollte. „Fass mich nicht an! Bleib bloß weg von mir, du … du … Monster!“
Wie bitte? Ich hör wohl nicht richtig?

Verblüfft blickte Salamanda auf die zerschundene Gestalt, die jetzt auf allen Vieren aus ihrer Reichweite krabbelte. „Oh mein Gott, oh mein Gott …“, wimmerte die Frau.
Also der war’s nicht, der dich gerade gerettet hat.

Ein gereiztes Fauchen drang aus Salamandas Kehle. Warum ärgerte sie sich über die alberne Reaktion? Was hatte sie denn erwartet – ein freundliches Dankeschön? Dass dieses dämliche Flittchen kapierte, wer hier in Wahrheit das Monster war?
Zornig sah sie zu, wie die Frau hysterisch schluchzend floh. Sie verlor einen Stiefel und schürfte sich den Knöchel auf, ehe sie endlich auf die Beine kam und davonstolperte. Das Dunkel der Nacht verschluckte sie und Salamanda konnte nur hoffen, dass sie bei ihrer blinden Flucht nicht kopfüber in die Themse stürzte. Oder so bescheuert war, auf einen zweiten Brian hereinzufallen, der ihr Hilfe anbot …
Denk nicht darüber nach. Sie ist es nicht wert.

Allerdings. Menschen waren es nicht wert. Das hatte die blöde Kuh gerade wieder einmal eindrücklich bewiesen. Salamanda hob den Stiefel auf und schleuderte ihn fort. Klatschend landete er irgendwo zwischen den kaputten Holzpaletten.
Sie machte sich daran, die übrigen Spuren zu beseitigen. Ächzend wuchtete sie den toten Brian in den Kofferraum seines Fords. Falls tagsüber Leute hier vorbeikamen, mussten sie ja nicht gleich über eine blutlose Leiche stolpern. Je mehr Zeit verging, bis man ihn fand, umso besser. Vielleicht hatte er auch nicht zum ersten Mal eine Frau hier gequält. Vielleicht waren zwischen all dem Gerümpel auf dem Gelände Reste seiner früheren Opfer versteckt.
Achtung!

Abrupt hielt Salamanda inne. Etwas stimmte nicht. Was?
Die Atmosphäre hat sich verändert.

Lauernd hob die Dämonin den Kopf. Sie vernahm nirgendwo ringsum ein Geräusch, aber ihre geschärften Sinne spürten etwas. Eine Präsenz, die nicht an diesen Ort gehörte. Die sich in der tödlichen Stille hinter ihrem Rücken verbarg.
Jemand hatte ihr Tun beobachtet.
Und dieser Jemand beobachtete sie immer noch.
Wer?

Salamanda spannte alle Muskeln an. Wenn sie jetzt herumwirbelte, ohne ihren Gegner zu kennen, verspielte sie vielleicht eine Chance. Andererseits wollte sie nicht riskieren, plötzlich angegriffen zu werden. Sie musste wissen, mit wem sie es zu tun hatte.
Also los!

Kampfbereit fuhr sie herum – und erstarrte mitten in der Bewegung, als sie die Katzen sah. Nicht eine Katze, viele Katzen. Sehr viele Katzen. Sie saßen überall. Der ganze verfluchte Hinterhof war voll mit Katzen und Salamanda hatte nicht eine von ihnen zuvor bemerkt.
Weil da vorher keine Katze gewesen ist.

Sie bewegten sich nicht. Regungslos hockten sie da, hoch aufgerichtet, und taten nichts von all dem, was nette Miezekätzchen sonst so tun – maunzen, einem um die Beine streichen und Bettelblicke aufsetzen. Es grenzte an Majestätsbeleidigung, diese gefährlichen Wächter mit normalen Katzen vergleichen zu wollen.
Schlagartig begriff Salamanda.
Diese Katzen gehörten zu Bastet. Sie begleiteten die Tochter des ägyptischen Sonnengottes Ra und tauchten häufig dort auf, wo Bastet anzutreffen war.
Demütig senkte Salamanda den Kopf, zum Zeichen, dass sie verstanden hatte.
„Hat Bastet euch gesandt? Bringt ihr mir eine Botschaft von ihr?“
Die Katzen rührten sich nicht. Bis auf eine, in deren tiefschwarzen Augen ein goldenes Feuer glomm. Das musste die Anführerin sein. Salamanda fühlte sich von ihrem unbestechlichen Blick beinahe durchbohrt. Es war, als würde die dämonische Göttin selbst sie ansehen.
Salamanda hatte nicht vergessen, dass sie Bastet noch etwas schuldig war. Allein ihr war es zu verdanken, dass sie Dorian von den Toten hatte zurückholen können. Nun war wohl die Zeit gekommen, dass sie sich für diese Gefälligkeit erkenntlich zeigen musste.
„Ich stehe zu deiner Verfügung, Hoheit.“
Gespannt wartete Salamanda auf Anweisungen. Doch die Katzen waren nicht gekommen, um ihr einen Auftrag zu überbringen. Die Botschaft, die Bastet ihr übermittelte, war eine völlig andere. Es war eine Warnung. Wie immer sprach Bastet nicht direkt zu ihr. Ihre Botschaft erschien einfach plötzlich in Salamandas Geist.
HÜTE DICH VOR DER UHRMACHERIN.
„Was?“, fragte Salamanda verwirrt.
Die versammelten Katzen starrten sie nur regungslos an. Ihre Anführerin zuckte hochmütig mit den Schnurrbarthaaren, als wolle sie Salamanda darauf hinweisen, dass diese Bastets Worte sehr wohl vernommen hatte.
„Ja, schon“, flüsterte sie. „Aber …?“
Die Katzen zogen sich zurück. Lautlos entschwanden sie in die Nacht, eine nach der anderen, bis keine Schwanzspitze mehr zu sehen war.
Als wären sie niemals da gewesen.