„Unheilige Nacht“, unser Weihnachts-Special für dieses Jahr, kommt so gut an, dass wir euch diesmal einen kleinen Appetithappen nicht vorenthalten wollen. Für diejenigen, die noch keinen Blick hineingeworfen haben oder es noch gar nicht kennen. Die Geschichte heißt „Thomasnacht“ und ist von Catalina Corvo:

»Obduktion Susanne Michalski, geboren am 30. Januar 1964, verstorben am 19. Dezember 2016.« Die behandschuhten Finger des Pathologen stoppten das Band. Saranea beobachtete, wie er einen Augenblick innehielt und mit dem Handrücken seine dünne, randlose Brille zurechtrückte. »Unbekannte Todesursache, post Rigor Mortis, neun Stunden bei durchschnittlicher Lagerung in Raumtemperatur. Äußerlich lässt sich marmorierte Haut erkennen. Die Patientin weist keinerlei körperliche Schäden durch Außeneinwirkung auf.«
Das Diktiergerät fand seinen Weg auf einen Beistelltisch, ohne dass die Aufnahme beendet wurde. »Eröffnung des Brustkorbs beidseits lateral.«
Das Durchtrennen der Haut verursachte ein erstaunlich lautes, knackendes Geräusch. Saranea kroch eine Gänsehaut über den Rücken. Das hatte sie sich anders vorgestellt. Natürlich veränderte der menschliche Körper mit dem Tod seinen Zustand. Die Totenflecke, Leichenstarre, marmorierte und zugleich leicht glasige Haut, das aufgedunsene Gesicht, all das kannte sie. Dennoch war das hier anders.
Der Pathologe klappte die durchtrennte Bauchdecke nach unten. Mit den Fingern fuhr er unter Darmschlingen, schob sie beiseite, griff darunter. Sein Gesicht blieb unbewegt. »Intraabdominelle Entzündungszeichen, Fibrinablagerungen. Kein Anzeichen auf maligne Veränderungen. Kein Hinweis auf Illeus.«
Der Arzt verstummte.
Ein metallischer, scharfer Geruch schwappte zu der jungen Frau herüber. Für einen Augenblick war es still.
»Zersetzungserscheinungen der Leber …« Der Mediziner hob etwas Gräuliches an.
Saranea wurde schlecht. Der Gestank nahm zu. Als der Pathologe begann, die Rippen der Toten auseinanderzuspreizen, entfloh sie den hellen, gefliesten Räumen.

Als Saranea Elert eine knappe Stunde später in die U-Bahn stieg, verfluchte sie sich für ihre Neugier. Als Pflegerin auf einer Normalstation, die auch schon im OP assistiert hatte, hatte sie mit offenen Bäuchen ebenso wenig ein Problem wie mit gesplitterten Knochen oder Körpersekreten jeglicher Art. Sie hatte Menschen in den Endstadien schwerer Krankheiten begleitet, hatte unzählige Male Urin und Kot abgewaschen, Blut, Eiter oder Erbrochenes aufgewischt. Sie hatte schon viele abgedeckte Körper hinab in die Pathologie gefahren und danach ein leer gewordenes Bett neu gerichtet. Sie wusste besser als manch anderer, wie sterblich Menschen waren, und konnte trotzdem gut schlafen.
Doch dem Tod so direkt in die starren Augen zu blicken wie an diesem Mittag, erzeugte in ihr ein unbestimmtes Gefühl der Aufregung, das sie seit ihrer Ausbildung nicht mehr wahrgenommen hatte.
Vielleicht lag es daran, dass sie die alte Frau Michalski gekannt hatte. Zumindest ein wenig. Die Rentnerin war vor einer Woche mit entzündeten Mandeln eingeliefert worden. Sie hatte den Routineeingriff gut überstanden und war nur noch für ein paar Tage zur Beobachtung dageblieben, um auszuschließen, dass es zu Nachblutungen kam. Es war ihr gut gegangen. Sie hatte von ihren Enkeln erzählt, von den Geschenken, die sie dieses Jahr lieber im Versandhandel bestellt hatte, und vom Schopfbraten mit Rotkraut und Knödeln. Ebenso von den Buchteln, die sie jedes Jahr für die Familie backte.
Dabei hatte sie in diesem herrlichen altmodischen Singsang gesprochen, der echtes Wiener Urgestein verriet.
Nichts hatte auf eine Sepsis oder ähnliche Komplikationen hingedeutet, und dennoch war Oma Michalski einfach so gestorben. Organversagen. Ohne Grund. Ohne Sinn.
Das Rattern der U-Bahn, das Stimmengewirr, die Nähe der fremden Menschen ermüdeten Saranea. Die allgemeine vorweihnachtliche Hektik brach über die Stadt herein wie ein Blutsturz über eine Lunge und ließ die Menschen röcheln. Die Krankenschwester hasste das. Weihnachten war am schönsten in der Stille einer einsamen Winternacht. Warum begriffen die Leute das nicht?
Auf dem letzten Stück Fußweg zeigte sich die Stadt noch einmal von ihrer hässlichen Seite. An diesem Nachmittag erschien ihr der Essensgeruch aus den allgegenwärtigen Kebab-Buden noch aufdringlicher als sonst, die Lichter im Schaufenster eines Schnäppchenladens ungewöhnlich grell. Jede Ecke schien heute besonders intensiv nach Urin zu stinken.  
Lediglich die Aussicht darauf, sich in wenigen Augenblicken den Kampfergeruch der Station sowie den Gestank der allgegenwärtigen Armut ihres Wohnviertels bei einer heißen Dusche von der Haut zu schrubben, verlieh der jungen Frau noch Kraft.
Sie hatte die rettenden vier Wände ihrer Simmeringer Ein-Zimmer-Wohnung beinahe erreicht, da schlug der Moloch Wien noch einmal zu. Sie prallte mit jemandem zusammen.
Es handelte sich um einen schlanken Mann. Er trug einen schicken Mantel aus dunklem englischen Tweed. Eindeutig zu schick für die heruntergekommene Gegend. Dunkles, leicht welliges Haar, blasse Haut. Viel mehr sah sie nicht von ihm, denn er ging einfach weiter, ohne sich nach ihr umzusehen. Was für ein Idiot.
»Oasch!«, brüllte sie ihm aus Prinzip hinterher, aber er verschwand bereits hinter der nächsten Ecke. Von weihnachtlicher Nächstenliebe keine Spur.
Nach der Dusche fiel Saranea ins Bett wie ein Stein, obwohl die Glocke eines nahen Kirchturms erst vier schlug. Der Tag hatte sie erschöpft, und ihre Laune ging mit der Sonne endgültig unter. Sie verkroch sich in ihrem Federbett und schloss die Augen …

Wenn ihr wissen wollt, wie es weitergeht, dann schaut ins Buch oder bestellt es jetzt, wenn ihr es nicht nicht habt, im Zaubermond-ShopWir wünschen euch noch eine besinnliche Adventszeit undt blutigen Lesestoff!
Andrea und Uwe

PS: Das atmosphärische Cover war ein allererster Entwurf für die Antholgie. Welches gefällt EUCH besser?