Rund um die Uhrmacherin spitzen sich die Dinge zu. Die Fronten sind jetzt mehr als klar, und jede Seite ist auf der Suche nach mächtigeren Mitteln, um ihre Gegner zu besiegen. Allerdings haben sowohl Irene als auch Salamanda auf ihre Art mit den Gaben zu kämpfen, die sie in den Kampf führen. Mächtige Magie kommt eben immer mit einem Preis. Hier ein Ausblick auf die Probleme, mit denen die Uhrmacherin sich konfrontiert sieht.

Voller Genugtuung sah Irene dem geschäftigen Treiben in der großen Halle zu.
Mit der Uhrmacherwerkstatt stand alles zum Besten – die zahlreichen Zhi Ren erledigten flink und geschickt die Aufgaben, für die Irene sie geschaffen hatte. Alfred, ihre rechte Hand, beaufsichtigte inzwischen eine ganze Armee von Uhrmachergesellen.
Er teilte die Zhi Ren ein, dirigierte und kontrollierte ihre Arbeiten und tat das trotz seines hohen Alters mit Freude. Auf Alfred war Verlass.
Sie nickte ihm wohlwollend zu, während sie die Halle durchquerte. Am Ende des langen Förderbands warteten die neu gefertigten Lebensuhren darauf, dass Irene ihnen den letzten entscheidenden Schliff verpasste.
Erst mithilfe ihrer Magie wurden aus den Uhren tödliche Waffen.
Irene lächelte. Bald konnte sie Dorian Hunter Bescheid geben, dass alles bereit war. Sie hatte ihrem Vater versprochen, mit ihm gemeinsam den Kampf gegen die Schwarze Familie und sämtliche Dämonen der Welt aufzunehmen. Gab es ein höheres Ziel für die Tochter eines Dämonenkillers? Nein. Dank Irenes Lebensuhren konnten die Menschen ein für alle Mal von diesem Übel befreit werden. Dorian würde für immer stolz auf Irene sein.
Dummerweise existierte da nur ein klitzekleines Problem.
Der Pakt, den Irene einst mit Yama geschlossen hatte, stand ihren Plänen im Weg.
Yama, dem chinesischen Totengott verdankte sie ihre Macht über die Zhi Ren. Auch den Zugang zur Werkstatt, die in einer anderen Dimension existierte, hatte Yama ihr verschafft – aber selbstverständlich hatte er Bedingungen gestellt, ehe er ihr das alles gewährt hatte. Seine Anhänger unter den Dämonen mussten verschont bleiben. Damals hatte sie dem leichtfertig zugestimmt.
Mittlerweile bereute sie es. Und wusste nicht weiter. Sie konnte Dorian ja schlecht erklären, dass einige Dämonen doch überleben sollten …
Irene seufzte, während sie ihr Büro betrat und die Tür hinter sich schloss. Die Geräusche der Produktion waren jetzt nur noch stark gedämpft zu vernehmen. Gut so. Sie brauchte Ruhe, um nachzudenken.
Aus der Bibliothek ihres Vaters hatte sie vor einiger Zeit ein Buch ausgeliehen. Dorian hatte sie misstrauisch beäugt, jedoch nicht weiter nachgebohrt, warum seine Tochter ausgerechnet eine Abhandlung über Teufelspakte lesen wollte. Sie hatte natürlich gehofft, darin Hinweise zu finden, wie man aus einer solchen Vereinbarung unbeschadet wieder herauskam.
Tatsächlich hatte sie einige Beispiele gefunden: Menschen, die ihre Bauprojekte mit Hilfe des Teufels vorantrieben, Rathäuser in kürzester Zeit oder Kathedralen von schwindelerregender Höhe bauten, hatten anschließend den Höllenmeister um den versprochenen Lohn betrogen. Der Teufel hatte die ersten Seelen, die das fertige Bauwerk betraten, für sich eingefordert – und man hatte einfach Schweine und Ziegen in die Gebäude getrieben.
Ein netter Trick, der funktioniert hatte.
Leider half er Irene absolut nicht bei ihrem Problem mit Yama.
Obwohl sie Dorians Buch in der letzten Woche genauestens studiert hatte, blätterte sie es nun erneut durch. Vielleicht hatte sie ja doch etwas Wichtiges übersehen?
Irgendwann musste Irene einsehen, dass der Inhalt nicht mehr hergab. Enttäuscht klappte sie den alten Folianten zu. Nichts von dem, was sie gelesen hatte, ließ sich auf ihren speziellen Fall übertragen. Außerdem waren die meisten Versuche übel ausgegangen für diejenigen, die versucht hatten, den Teufel zu betrügen. Als Baron de Conde war auch Dorian vor langer Zeit dasselbe widerfahren. Sein Versuch, Asmodi zu hintergehen, schlug damals fehl. Nicht nur er, sondern die ganze Familie des Barons hatte dafür bitter büßen müssen.
Eigentlich sollte Irene das Warnung genug sein.
Aber sie weigerte sich, an die Aussichtslosigkeit ihres Vorhabens zu glauben. Niemand war unfehlbar, auch ein chinesischer Gott nicht. Es musste doch einen Weg geben, selbst Yama zu überlisten!
Mit nachdenklich gefurchter Stirn betrachtete Irene die kleine Uhr auf ihrem Schreibtisch. Sacht schwang das winzige Pendel hin und her, erinnerte an die Vergänglichkeit der Zeit. Mahnte die Uhrmacherin zur Besonnenheit. Sie war so weit gekommen, sie durfte nicht voreilig agieren und alles aufs Spiel setzen.
Solange sie und Dorian die Dämonenscharen dieser Welt noch nicht vernichtet hatten, war Yama ein äußerst nützlicher Verbündeter. Es war also besser, ihn weder zu verärgern noch misstrauisch zu machen. Aber verdammte sie das wirklich zur Untätigkeit?
In Irenes Fingerspitzen kribbelte es. Behutsam strich sie über das Zifferblatt der Uhr. Das leise Ticken wirkte stets beruhigend auf sie. Schon oft hatte es ihr geholfen, ihre Gedanken zu klären, bis ihr am Ende doch noch eine Lösung einfiel.
So auch heute.
Zwar fand sie keinen sofortigen Ausweg aus ihrem Dilemma. Vorerst musste sie den Pakt mit Yama ja unbedingt aufrechterhalten. Offiziell zumindest.
Aber was sprach dagegen, einen kleinen Test zu wagen?
Wenn sie irgendeinem unbedeutenden Dämon aus Yamas Anhängerschaft eine Lebensuhr schickte – würde der chinesische Gott das überhaupt bemerken?
Falls ja, konnte sie behaupten, der Tote sei lediglich ein Versehen gewesen, sie hätte nichts von seiner Zugehörigkeit zu Yama gewusst. Falls Yama von seinem Ableben aber gar keine Kenntnis erlangte und der Mord unentdeckt vonstattenging …
Irenes Mund verzog sich zu einem triumphierenden Lächeln.
Dann konnte sie still und heimlich auch für alle Dämonen Yamas Lebensuhren vorbereiten, bis sie an der Seite des Dämonenkillers in den finalen Kampf ziehen würde.

Wenige Tage später schlenderte Irene durch Manhattan.
Ein kalter Wind pfiff hier, am südlichen Rand der Lower East Side, östlich des Broadways. Die Canal Street war das Herz Chinatowns, wo Tag und Nacht das Leben pulsierte. Trotz der beißenden Kälte drängten sich zahlreiche Touristen an den Läden und Lokalen vorbei, auf der Suche nach Parfum, Uhren, Elektronik oder Handtaschen – Markenschnäppchen made in Chinatown.
Chinesische Schriftzeichen zierten die Fassaden, überall flackerten Neonreklamen. Irene hatte Mühe, sich zu orientieren. Was für ein Lärm! Was für ein Gewusel von Passanten! Imbissstände verströmten würzigen Duft, Straßenhändler lockten mit seltsamen Früchten und Gemüse, in der Schauvitrine eines Restaurants hingen rotgebeizte Enten. Dazwischen pagodenförmige Telefonzellen – dass es so etwas überhaupt noch gab! –, Mahjongspieler, Drachenfiguren neben einer Bäckerei, leuchtende Lampions vor einem Tempeleingang.
Irene beschloss, sich heiße Teigtaschen zu gönnen – mmh, sie liebte Dim Sum – und sich ansonsten einfach treiben zu lassen.
Je tiefer sie dabei in die Seitenstraßen gelangte, umso mehr prägten bald Einheimische statt der Touristen das Bild. Irene spürte, dass sie ihrem Ziel langsam näher kam. Irgendwo hier gab es einen verborgenen Yama-Schrein, das hatten ihre Recherchen ergeben.
Vielfältige Dialekte drangen an ihr Ohr, nicht alles, was um sie herum gesprochen wurde, verstand sie. Irene verdankte ihre Chinesisch-Kenntnisse zum großen Teil der Füchsin, die sie auch in asiatischer Kampfkunst unterrichtet hatte.
Aber je länger Irene durch das alte, das echte Chinatown spazierte, desto mehr nahm sie von dem wahr, was um sie herum vorging. Seit jeher verfügte sie über besonderes Talent. Ihre magischen Wurzeln ließen sie Dinge aufspüren, die anderen verborgen blieben – sie musste nur all ihre Sinne auf das gewünschte Ziel richten.
Irene entdeckte den Zugang zu Yamas Schrein schließlich im Hinterhaus einer Schneiderei. Der Familienbetrieb war bis zum Abend gut besucht, sie musste also eine Weile ausharren, ehe sie sich der Tür unauffällig nähern konnte. Immerhin wurde ihre Geduld belohnt.
Der Schrein wurde von einem verkrüppelten Chinesen gehütet, dessen Schlangenaugen ihn als Dämon auswiesen. Einem besser aussehenden Exemplar war Irene vor Jahren begegnet – damals, als der Fuchsgeist ihren Körper übernommen hatte. Erneut ließ die Erinnerung an die Füchsin Irene traurig lächeln. Mae hätte es hier in Chinatown bestimmt gefallen. Aber sie war tot. Gefallen in einem Kampf, der Irene gegolten hatte.
Rasch schüttelte sie alle Gedanken an die Vergangenheit ab. Sie musste sich konzentrieren. Trödelei war nicht angesagt, ihre Mission zu heikel, um erwischt zu werden.
Irene prägte sich den Ort des Schreins, die Umgebung und die Physiognomie des Dämons, der ihn bewachte, genau ein. Wie zu ihren Anfangszeiten, als sie ganz auf sich gestellt gewesen war, musste sie dieses Mal allein vorgehen. Mitwisser konnte sie nicht gebrauchen. Daher wollte sie die tödliche Uhr später auch ohne die hilfreichen Zhi Ren hierher schaffen.
Dank des magischen Schlüssels zu ihrer Werkstatt konnte sie jegliche Distanz zum Glück schnell überwinden – es bedurfte nur einer Tür, die sie öffnen konnte, um an jeden Ort zu gelangen, an den sie wollte. Aber dieses Mal galt es, bei jedem Schritt unentdeckt zu bleiben und in Chinatown keine verräterischen Spuren zu hinterlassen.
Nichts sollte Yama verraten, dass sie je hier gewesen war.
Ein letztes Mal blickte Irene sich aufmerksam um, dann verschwand sie wie ein Schatten aus der New Yorker Dunkelheit.
Zurück an ihrem sicheren Schreibtisch arbeitete Irene die ganze Nacht, um die Lebensuhr für Yamas verkrüppelten Diener fertigzustellen. Es machte ihr Spaß, die winzigen Schrauben festzudrehen und alle Einzelteile zu einem Gesamtkunstwerk zu verbinden.
Eine Strähne ihres blonden Haares fiel ihr in die Stirn und verdeckte ihr die Sicht. Unwirsch schob Irene sie beiseite. Bei dieser besonderen Uhr musste sie äußerst penibel vorgehen. Dank jahrelanger Erfahrung saß zum Glück jeder Handgriff.
Sie spürte, wie die Magie sie durchströmte, als sie mit der Feinjustierung begann.
Im Grunde funktionierten ihre Uhren nach der Kontaktaufnahme durch das Opfer wie ein mentaler Scanner. Das Leben der Zielperson wurde nach Schwachstellen durchforstet, an denen die Uhr andocken konnte. Sichtbar wurde das, wenn sich das Zifferblatt wandelte. Sobald dort eine Schlüsselszene aus dem Leben des Opfers erschien, war die Uhr geprägt. Dann musste sie nur noch angehalten werden. Wenn die Uhr stillstand, starb auch der, mit dem sie auf magische Weise verknüpft worden war.
So hatte Irene es Dorian erklärt. Besser konnte sie die Funktionsweise ihrer Magie nicht beschreiben. Der Dämonenkiller hatte sich damit zufrieden gegeben. Die Lebensuhren funktionierten, davon hatte Irene ihn eindrucksvoll überzeugt. Es war ihr sogar gelungen, Salamanda Setis damit Todesangst einzujagen. Leider lebte die verhasste Rabisu immer noch – aber wenigstens war sie nicht mehr Teil von Dorians Team.
Das zumindest hatte Irene erreicht.
Mit prüfender Miene drehte sie die neu geschaffene Uhr in den Händen. Sie sah alt aus, war mit schlangenförmigen Ornamenten verziert und wirkte auf den ersten Blick vollkommen harmlos. Genau wie Irene es beabsichtigt hatte.
Die Magie, die der Uhr innewohnte, war jedoch so stark, dass Yamas hässlicher Diener sie nicht einmal berühren musste, um sie auf sich zu prägen.
Irene wollte kein Risiko eingehen.
Wenn der Krüppel die Uhr nicht sah, konnte er sie auch niemandem zeigen. Oder darüber reden. Sie würde Yamas Dämon umbringen, ohne dass er die Gefahr auch nur erahnte, in der er schwebte. Dafür musste sie die Lebensuhr nur für ein paar Stunden in seiner Nähe platzieren.
Sie dachte da an ein passendes Versteck direkt neben dem Schrein …

Vierundzwanzig Stunden. Das sollte reichen, hatte Irene beschlossen.
Doch selten war ihr die Zeit so dehnbar vorgekommen. Der Tag kroch nur so dahin, seit sie die Uhr nach Chinatown gebracht hatte. Fast kam es ihr vor, als wollte es nie wieder Abend werden. Sie tigerte rastlos durch die Werkstatt und reagierte gereizt, als Alfred sie fragte, was los war. „Nichts.“
„Aber …“
„Ich sagte doch: Nichts!“
Kopfschüttelnd wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Irene stapfte zurück in ihr Büro und knallte die Tür ins Schloss.
Dann, endlich, war die Frist, die sie sich selbst gesetzt hatte, verstrichen.
Jetzt konnte sie nach New York und den Test beenden. Die Uhr anhalten. Yamas Dämon töten. Und sehen, was geschah … Würde der chinesische Gott durchschauen, was passiert war? Würde Yama ihr auf die Schliche kommen? Dass sie versuchte, ihn zu betrügen und den einst geschlossenen Pakt zu umgehen?
Irenes sonst so ruhige Finger zitterten leicht, als sie den magischen Schlüssel benutzte. So sparte sie sich den Gang durch die nächtlichen Straßen von Chinatown, das Gewirr und die exotischen Gerüche. Die Tür, die sie öffnete, führte direkt ins Hinterhaus der Schneiderei.
Düstere Stille empfing sie.
Neben Yamas dekoriertem Schrein flackerten zwei fast heruntergebrannte Kerzen. Sonst war der Raum leer. Von dem dämonischen Hüter mit den Schlangenaugen war nichts zu sehen.
Vorsichtig fasste Irene unter die zersplitterte Bodendiele, wohin die sie die Uhr geschoben hatte. Sofort ertasteten ihre Finger das vertraute Metallgehäuse.
Sie atmete auf. Niemand hatte das Versteck entdeckt.
Ihr Herz klopfte schneller, als sie die Uhr hervorzog – behutsam, um sie nicht zu zerkratzen oder anderweitig zu beschädigen. Sie konnte es kaum erwarten, das Zifferblatt zu sehen. Welche Szene aus der Vergangenheit des verkrüppelten Dämons würde darauf abgebildet sein? Gleich würde sie es wissen. Und dann die Uhr stoppen. Sobald das Ticken verstummte, würde auch das Leben des dargestellten Dämons enden.
Irene trat einen Schritt näher an die Kerzen heran und hielt die Uhr ins Licht.
Als sie das Zifferblatt erkannte, hätte sie ihr Werk beinahe fallen lassen.
Eine Mädchengestalt blickte ihr entgegen. Blond, lächelnd – und sehr vertraut. Neben dem Mädchen saß ein Fuchs mit neun Schweifen.
„Nein, das kann nicht sein …?“
Grenzenlos entsetzt starrte Irene das Bild an. Es zeigte eindeutig sie selbst.
Sie hielt ihre eigene Lebensuhr in den Händen.
Noch bewegte sich das Pendel.
Noch tickten die Zeiger.
Noch.