Im ersten Teilroman von DORIAN HUNTER 91: „Taschenspiel“ verschlägt es Hunter in das Winchester Haus in Kalifornien. Aufgrund seiner seltsamen Architektur und gruseligen Vergangenheit ist das Haus eine perfekte Touristenattraktion. Und obwohl die Betreiber sich große Mühe geben, zu behaupten, dass es dort wirklich spukt, sind sie gar nicht erfreut, als sie es plötzlich mit ernsthafter und gefährlicher übernatürlicher Aktivität zu tun bekommen. Christian Schwarz hat sich hier wieder einmal tief in die Recherche gestürzt und eine sehr spannende Spukhaus-Geschichte mit einem Twist am Ende entworfen. Aber seht selbst.

Winchester Mystery House, San José

Hillary Brancheau stand vor dem Spiegel und zog die Augenbrauen nach.

„Wie lange dauert das denn noch?“, fragte Paul Cooke, der vor der halb geöffneten Tür wartete. „Die verschwinden bereits um die nächste Ecke. Gib Gas. Maggie hat dir eine halbe Minute gegeben.“

„Ja, ja, bin schon fertig.“ Hillary verstaute den Augenbrauenstift rasch in ihrer Handtasche. Sie glaubte nicht an Geister. Trotzdem war ihr die Vorstellung, in diesem unglaublichen Haus ihre Führerin zu verlieren, äußerst unangenehm. Sie hatte keine Lust, sich hier drin zu verirren. Und sei es auch nur für einen kurzen Zeitraum.

Plötzlich bewegte sich die Tür. Sie fiel so krachend ins Schloss, als habe sie jemand zugeschlagen! Die junge Frau erschrak heftig. Im ersten Moment glaubte sie an einen von Pauls berüchtigten Scherzen, die mitunter wenig sensibel ausfielen.

„Was soll der Scheiß?“, rief sie zornig.

Das Licht flackerte. Und ging ganz aus. Schlagartig stand Hillary in vollkommener Finsternis. Sie versteifte sich. Eiskalte Finger krochen über ihren Rücken. Ein leises bösartiges Kichern ließ sie zusammenzucken.

Für eine Zehntelsekunde blitzte das Licht wieder auf. Und riss eine Gestalt aus der Finsternis, die direkt hinter ihr stand! Eine abgrundtief böse, gierige, lüsterne Visage starrte sie über ihre linke Schulter an.

Hillary sah sie im Spiegel. Sie glaubte, ihr Herz müsse stehen bleiben. Die Vorstellung, dass ein Monster direkt hinter ihr in der Finsternis lauerte, brachte sie fast um den Verstand. Sie fuhr herum, schlug blind mit der Handtasche um sich und schrie sich die Seele aus dem Leib.

Erst ein kräftiger Schlag auf die Wange brachte sie wieder zu sich. Paul stand mit bleichem Gesicht vor ihr und schaute sie entsetzt an. „Was ist bloß in dich gefahren, Hill?“, fragte er. „Warum hast du so fürchterlich geschrien? Das hat ja geklungen, als ob dich einer abschlachten will …“

Hillary zitterte jetzt so stark, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Sie begann zu schluchzen, als Paul sie in den Arm nahm. Er streichelte über ihr Haar. „Ist ja gut“, murmelte er. „Beruhige dich bitte wieder, ich bin ja bei dir. Was war bloß los?“

„Ja, das würde ich auch gerne wissen“, sagte Maggie Linn, die gerade eben das Badezimmer betrat.

Maggie Linn gab die Tür frei, als der junge Mann mit dem Vollbart und den schulterlangen lockigen Haaren seine Freundin aus dem Badezimmer führte. War sie seine Freundin? Wohl schon. Sehr hübsch, teuer gekleidet, teure Handtasche. Aber ganz offensichtlich ein bisschen überdreht …

Das plötzlich einsetzende hysterische Geschrei hatte auch die anderen Tourmitglieder wieder zurückgelockt. Nun standen sie dichtgedrängt im engen, dunklen Korridor und starrten sensationslüstern auf das Pärchen. Dem jungen Mann war das sichtlich peinlich. Die Frau, um die er fürsorglich den Arm gelegt hatte, schluchzte noch immer. Erst als sie die Wand aus Leuten vor sich sah, verstummte sie schlagartig. Der Mann reichte ihr ein Papiertaschentuch. Sichtlich verlegen tupfte sie ihre Tränen aus dem Gesicht.

Maggie lächelte sie beruhigend an. „Sind Sie okay, Miss …?“

„Danke, es … es geht schon wieder. Ich heiße Hillary“, erwiderte sie leise und stockend.

„Und ich bin Paul“, stellte sich der junge Mann ungefragt vor und nahm zum ersten Mal seine Sonnenbrille ab. „Ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass Sie Hillary nicht mit irgendwelchem Geister-Hokuspokus erschreckt haben. Oder?“, stieß er scharf hervor.

Maggie blieb ruhig. „Natürlich nicht, Paul. Wir machen hier keinen Hokuspokus.“

„Tatsächlich? Dann haben sich die Gardinen im venezianischen Salon vorhin von alleine bewegt? Ich meine, obwohl nicht der kleinste Luftzug zu spüren war?“

Das Gespräch wurde langsam unangenehm. Es gab tatsächlich Vorrichtungen für kleine Geistereffekte im Haus, darunter auch drei Wind- und zwei Soundmaschinen für geisterhaftes Geflüster. Maggie hob bedauernd die Hände. „Ich habe das nicht gesehen, tut mir leid. Von uns gemachte Spezialeffekte gibt es nur bei unseren Events an Halloween oder am Freitag, dem dreizehnten. Und das sind alles Lightshows.“

„Ach, ja?“, mischte sich nun Hillary ein. Ihre Angst war wie weggeblasen, ihre Augen funkelten. „Und wie würden Sie das nennen, wenn plötzlich die Tür zufällt, das Licht ausgeht und mir im wieder aufzuckenden Licht eine Horrorgestalt über die Schulter schaut? Vielmals Entschuldigung, das ist ja auch eine Lightshow.“

Die anderen Tourmitglieder begannen erregt zu murmeln.

Was soll das Geschwätz?, dachte Maggie erbost. Welche Psychiatrie hat dir denn Freigang gewährt …? Die 43-Jährige machte den Job als Winchester Mystery House Tour Guide seit knapp 20 Jahren und hatte schon allerhand Typen erlebt. Aber derart hysterisch hatte sich noch niemand aufgeführt.

„Was denn, die Badezimmertür soll zugefallen sein?“, fragte Paul verwirrt und ließ Hillary los.

„Ja, sagte ich doch. Und dann wurde es schlagartig finster, und diese Halloween-Gestalt stand hinter mir. Wirklich super gemacht, das muss ich zugeben. Ein totenbleicher Mann mit Schnauzbart und Hut und tiefen, dunklen Ringen unter den Augen. Und aus den Augen lief Blut.“ Hillary stieß ein zorniges Lachen aus. „Aber hören Sie mal, Maggie, was machen Sie beispielsweise mit Leuten, die kein so starkes Herz haben wie ich und bei der Show tot umkippen? Irgendwo verschwinden lassen?“

„Aber … die Tür stand doch die ganze Zeit offen“, erwiderte Paul bestürzt. „Die ist nicht zugefallen, ich schwör’s dir. Ich konnte jederzeit ins Badezimmer schauen. Da drin ist es garantiert keine Sekunde dunkel geworden. Du hast plötzlich laut losgeschrien, aber da war es hell …“

Da haben wir’s. Das Püppchen ist wirklich total überdreht, dachte Maggie erbost. Sie ärgerte sich über die unfreiwillige Verzögerung. Sie wollte die Tour pünktlich beenden, um nach Hause zu kommen. Heute Abend waren ihr Mann Burt und sie mit einem befreundeten Ehepaar zum Essen verabredet.

Paul schien erst jetzt zu merken, welche fatalen Folgen seine offenen Worte für Hillary haben konnten. „Aber ist ja egal“, schob er schnell hinterher und lächelte bedauernd in Richtung der anderen. „So was kann schon mal passieren, wenn man übermüdet ist, oder? Sie hat beim Schminken wahrscheinlich einfach zu intensiv an die Geistergeschichten gedacht und sich dann plötzlich in was reingesteigert. So war es doch, Hill, nicht wahr? Du sagtest doch noch heute Morgen, wie schlecht du geschlafen hast.“

Hillary setzte zu einer heftigen Erwiderung an. „J-ja, ich war schon den ganzen Tag müde“, erwiderte sie dann aber.

Ah, sie hat’s also auch kapiert, dachte Maggie. Immerhin ist sie nicht blöd. Das ist doch schon mal was. Aber einen kriegt sie trotzdem noch mit …

Maggie öffnete die Badezimmertür und knipste das Licht an. „Bitte kommen Sie noch mal mit mir ins Bad, Hillary“, sagte sie. Die junge Frau zögerte, trat dann aber mit Paul zusammen ein.

„Sehen Sie selber“, sagte Maggie, während sich drei, vier andere an der Tür drängten, um ja nichts zu verpassen. Sie knipste das Licht aus. Da es ein kleines Fenster gab, verblieb der Raum in schwachem Licht. „Es kann um diese Zeit gar nicht vollkommen finster werden, wenn das Licht ausgeht. Ich hoffe, das beruhigt Sie. Die Geister des Hauses sind im Allgemeinen friedlich. Sie haben noch nie jemanden wirklich erschreckt.“

„Also mich wundert das absolut nicht in dieser unheimlichen Umgebung“, sprang eine ältere, ziemlich beleibte Farbige Hillary bei. Sie trug schreiend bunte Kleidung und stand zuvorderst. „Ich habe meine fünf Sinne ansonsten beisammen, aber hier kann man schon mal Dinge sehen, die nicht existieren.“

„Vielleicht ist Hillary sensibler als wir anderen und hat etwas gesehen, was tatsächlich existiert“, hörte Maggie eine männliche Stimme aus dem Hintergrund. „Das kann ja sein. Ich meine etwas, was wir anderen nicht mitkriegen würden, das sie aber sieht.“

„So wie bei Shining, genau“, erwiderte eine Frauenstimme. „Das ist ja wirklich echt gruselig.“

„Wir gehen weiter“, sagte Maggie Linn bestimmt, nachdem sie wieder aus dem Badezimmer getreten war.

Ein älterer, hochgewachsener Mann mit weißen, streng gescheitelten Haaren und kantigem, glattrasiertem Gesicht, der Stoffhosen und ein grünes Poloshirt trug, klatschte in die Hände. „Das war wirklich eine super Vorstellung“, sagte er höhnisch in Richtung Hillarys und Pauls, „geben Sie ruhig zu, dass Sie ein Teil der Show sind, um uns den ganzen Geisterquatsch ein bisschen schmackhafter zu machen.“

Blödsinn, dachte Maggie, die ihr Leben lang nicht an Geister geglaubt hatte. Und schon zweimal nicht an die des Winchester-Hauses. Das war wirklich nur der hysterische Ausbruch einer Bescheuerten gewesen.

„Nein, das stimmt nicht“, antwortete Paul denn auch energisch. „Wir sind heute zum ersten Mal überhaupt in San José. Mit den Leuten hier haben wir nicht das Geringste zu schaffen.“

Die Besucher redeten wild durcheinander, die Frau des Weißhaarigen, eine hübsche, gepflegte Mittfünfzigerin mit roten Haaren und einem bunten Hütchen, machte ihm Vorwürfe wegen seiner Worte.

„Kommen Sie jetzt bitte mit.“ Maggie drängte sich energisch durch die Menge und ging weiter durch den düsteren Korridor, an dessen Ende Licht durch ein Fenster fiel. Eine extra darauf getrimmte Diele knarrte vernehmlich, eine weibliche Stimme schrie erschrocken auf. Das Lachen zweier Männerstimmen antwortete. Ein paar Witze wurden gemacht.

Wie leicht man sie doch erschrecken kann, dachte Maggie. Ein bisschen Knarren und Wispern, ein paar huschende Schatten und ein paar Vorhänge, die sich bewegen, und schon drehen sie vor Angst fast durch.