Freut ihr euch auch schon auf den nächsten DORIAN-HUNTER-Band? Lange müssen wir nicht mehr warten. Und um diese Wartezeit noch zu verkürzen, habe ich heute eine Leseprobe für euch. ***Ergänzung: Am Ende des Textes habe ich aus aktuellem Anlass noch einen kleinen Hinweis angefügt. ***

DORIAN HUNTER 83: „Der Orden von Delphi“ wird sich, wie man sich vielleicht denken kann, wieder um den gleichnamigen Orden drehen. Die seltsamen Brüder sind immer noch der Meinung, dass niemand mit einem Talent für Hellseherei frei herumlaufen darf, und sie haben es deshalb immer noch auf Philipp abgesehen! Als hätte Coco, die zusammen mit dem Hermaphroditen in Wien die Räumlichkeiten des Schiedsrichters der Schwarzen Familie bezogen hat, nicht so schon genug Probleme …

Seit der Orden von Delphi zum ersten Mal aufgetaucht ist, hatte ich eine vage Vorstellung davon, dass er schon sehr alt ist. Natürlich. Immerhin ist Hugo Bassarak ihm bereits zu Zeit der Französischen Revolution begegnet. Allerdings hatte ich an einen noch viel größeren Zeitraum gedacht. Er heißt nicht umsonst der Orden von Delphi, was natürlich ein direkter Bezug auf das Orakel von Delphi ist. Und das gibt es schon seit der Spätantike nicht mehr.

Deshalb nehmen wir euch in diesem Band mit in das Jahr 375. Die Leseprobe stammt aus der Feder von Catherine Parker.

Delphi, 375 n. Chr.

Mantao musterte die Neuankömmlinge mit unbewegtem Blick.
Unruhig drängten die Pilger sich vor dem Apollon-Tempel. Ihre Gewänder waren schlicht und schmucklos. Die Menschen, die sich heute den Rat des Orakels erhofften, hatten den Aufstieg über die Hügel des Parnassos in schäbigen Sandalen zurückgelegt, manche gar mit bloßen Füßen. Es war der Tag des Monats, an dem die Pythia dem einfachen Volk weissagte – vorausgesetzt, die Zeichen standen gut.
Mantao trat aus dem Schatten der dorischen Säulen. Allein sein Anblick genügte, die Pilger in Ehrfurcht verharren zu lassen. Mantao gehörte der Oberpriesterschaft noch nicht lange an und genoss das jähe Gefühl der Macht, das ihm sein Amt bescherte. Das Licht der Sonne traf sein Gesicht und wieder einmal kam es ihm vor, als küsste ihn Apollon persönlich.
Du übergießt mich mit deinem Segen, Gott.

Triumph erfüllte Mantao, hier, am heiligen Mittelpunkt der Welt zu stehen. Hier war sein Platz. Hier wirkte er im Sinne Apollons.
Du hast mich auserwählt, deine Botschaften zu deuten und öffentlich zu verkünden.

Welche Rolle spielte es da, dass die Blütezeit des Orakels lange zurücklag – die Zeit, in der die mächtigsten Herrscher Griechenlands in Delphi um Hilfe bei wichtigen Entscheidungen ersucht hatten; die Zeit, in der sich die städtischen Schatzhäuser entlang der Heiligen Straße mit kostbaren Weihegeschenken gefüllt hatten. Mantao liebte es, die angehäuften Reichtümer bei heimlichen Rundgängen zu betrachten: Bronzene Statuen, kunstvoll verzierte Amphoren, wertvolle Stoffe, Münzen, Schmuck und Kultgefäße.
Abschätzig kniff er die Augen zusammen. Nein, die Pilger, die heute vor ihm den Kopf neigten, brachten keine Schätze für seinen Gott mit. Sie bezahlten ihren Obolus allenfalls mit Nahrungsmitteln für die dienende Priesterschaft. Mit einer herrischen Handbewegung bedeutete Mantao den Menschen, ihm zu folgen.
Neben dem Altar wartete bereits Spýros auf ihn, sein schlanker Novize, der ihm treu ergeben war. Er hatte bereits das Opferfeuer entzündet und führte eine junge Ziege mit sich.
Mantao hoffte, dass er das Tier gut ausgewählt hatte, denn wenn es sich nicht für die Opferung eignete, würde die Pythia nicht weissagen. Orakeltage für das Volk fanden nur einmal im Monat statt, und es sorgte stets für Unmut bei den Angereisten, wenn er sie unverrichteter Dinge wieder heimschicken musste.
Dabei sollten sie froh sein, dass die Pythia sich überhaupt herablässt, ihre unwürdigen Fragen vor Apollon zu bringen
.
Ein Orakeldiener füllte eine Schale mit eiskaltem Quellwasser. Er reichte sie Mantao, der sie mit beiden Händen emporhob. Bei dieser Geste verstummte auch das letzte Getuschel und Geraune in den Reihen der Pilger. Angespannte Stille breitete sich um den Altar aus.
Mantao fixierte die Ziege, die mit krummen Beinen auf dem Marmorboden stand. Noch wirkte sie reglos und leicht benommen. Mantao benetzte seine Hand mit Wasser, dann ließ er blitzschnell einen eisigen Tropfenschauer auf das Tier regnen.
Die Ziege zuckte zusammen und sprang mit ängstlichem Blöken in die Luft.
Mantao nickte Spýros zu, der kaum merklich lächelte.
Gut gemacht.

„Die Pythia wird weissagen“, verkündete Mantao dem Volk.
Die Ziege wurde für die Opferung vorbereitet. Ein Priester schlachtete sie. Der Rauch des Altarfeuers folgte Mantao, als er durch die Tempelanlage schritt, um die Pythia nach ihrer rituellen Waschung zu begleiten. Der Ablauf des Orakels schrieb es vor, dass sie vor ihrer Befragung in der heiligen Quelle Kastalia nackt badete und anschließend vom Wasser der Kassiotis trank, einer weiteren heiligen Quelle. Die weisen Hosioi, der Fünfmännerrat, und zwei Oberpriester geleiteten sie anschließend in einer Prozession zum Adyton. Die Pythia war die einzige Frau, der es erlaubt war, Apollons inneres Heiligtum zu betreten.
Reglos betrachtete Mantao die hagere Gestalt der Seherin. Sie war keine besonders schöne Frau. Vielleicht war sie im jugendlichen Alter einmal hübsch gewesen, doch jetzt war ihr Liebreiz längst verblichen. Trotzdem genoss sie ein hohes Ansehen.
Mantao presste die Lippen zusammen. So sehr er seinen Gott verehrte, den Lichtbringer des Geistes, so sehr zweifelte er mitunter an den Gesetzen der Orakelstätte. Warum musste die Pythia stets eine Frau sein? Er selbst war nicht der einzige Mann in Delphi, dem die Gabe des Sehens ebenfalls verliehen war. Er hatte häufig Ahnungen, Klarträume, Visionen. Es war nicht gerecht, dass er darüber schweigen musste, weil Männern wie ihm nur das Priesteramt vorbehalten war. Es war nicht gerecht, dass diese Frau über ihm stand.
Mantao bemerkte, dass der Blick der Pythia auf seinem Gesicht ruhte. Er neigte den Kopf, um seine wahren Gefühle hinter der Geste aus Demut zu verbergen. Sie würde ihm nicht vorwerfen können, dass er ihre Stellung nicht achtete.
Aber mögen muss ich sie deshalb noch lange nicht.

Die Prozession betrat den Tempel. Die Pythia legte ihren Umhang ab und reichte ihn einem Orakeldiener. Im schlichten weißen Kleid nahm sie auf ihrem Dreifuß Platz, der über der schmalen Felsspalte stand. Mantao wusste, dass daraus die betäubenden Dämpfe aufstiegen, die einen rasch in Trance versetzten. In diesem Zustand empfing die Pythia Botschaften von Apollon, die sie als Orakelsprüche von sich gab. Oft waren ihre Worte verwirrend, schienen ohne Sinn und Verstand. Aufgabe der Priester war es dann, ihre Voraussagen zu deuten und für die Wartenden zu „übersetzen“.
Heute würde die Pythia jedoch nicht sprechen. Das gewöhnliche Volk der Griechen musste sich damit zufriedengeben, einfache Fragen zu stellen, die mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden konnten. Dafür stand ein Gefäß mit schwarzen und weißen Bohnen bereit, in das die Pythia griff, um ihre Prophezeiungen zu übermitteln.
Der Duft von geräuchertem Lorbeer erfüllte die Luft. Im Nebenraum des Tempels hatten sich die Pilger versammelt. Sie warteten geduldig ab, was weiter geschah.
Mantao schob sich näher an die offene Kammer heran, in der die Pythia saß. Ihr Oberkörper schwankte leicht hin und her. Das Gesicht wirkte verzerrt, ihre um den Leib geschlungenen Hände verkrampft. Mantao war bekannt, dass die heiligen Dämpfe nicht ungefährlich waren. Dennoch beneidete er die Seherin um ihr Vorrecht, dort zu sitzen und direkten Kontakt mit dem Göttlichen aufnehmen zu dürfen.
Er trat noch einen Schritt näher heran. Die rauchgeschwängerte Luft kratzte in seiner Kehle. Vor seinen Augen flimmerten seltsame Schlieren. Schwindel erfasste ihn.
Haltsuchend fasste seine Hand nach der Zwischenwand des Tempels, neben der er stand.
Und dann …
Dann löste Mantao sich aus seinem Körper und flog.

Band 83: „Der Orden von Delphi“ erscheint am 4.3. Vorbestellen könnt ihr ihn bereits auf der Zaubermond-Website.

***Und hier noch ein kleines Update: Die auf 500 handnummerierte CD-Exemplare limitierte Hörbuch-Ausgabe von „Schwarzes Blut, kaltes Herz“ ist fast ausverkauft. Das Jubiläumshörbuch erschien bekanntlich zu Band 75 der Buchausgabe und wurde von Thomas Schmuckert, Claudia Urbschat-Mingues und Frank Gustavus eingelesen. Stand heute sind noch exakt 6 Exemplare auf Lager. Wer möchte, sollte also schnell im Shop bei Zaubermond zugreifen.***