Echt gruselig: Die legendäre X-Ray-Röntgenbrille

30. Juli 2021

Mein letzter Beitrag über die kuriosen Kleinanzeigen in den alten Dämonenkiller- und anderen Romanheften hat mir einige Anfragen beschert: Was, zum Teufel, ist denn mit der legendären X-Ray-Röntgenbrille? Diese Anzeige begleitete gefühlte Jahrzehnte jedes Heft. Welcher Pubertierende hätte sie nicht gern gehabt? Bestellt habe ich sie allerdings nie … Sie war mir schlicht zu teuer. Außerdem ging ich damals noch nicht auf Partys. Und wahrscheinlich hätte ich extrem affig (den Begriff nerdig kannte man früher noch nicht) gewirkt, wenn ich im Alltag mit so einer Brille auf der Nase herumgelaufen wäre und die Mädchen angestarrt hätte. Nein, so einer war ich nicht.

Dennoch muss die legendäre X-Ray-Röntgenbrille ein Dauerbrenner gewesen sein – sonst wäre die Anzeige nicht ewig geschaltet worden. Vielleicht, so kam mir der Gedanke, war sie ja in Wirklichkeit auch so eine Ewige Idee, die in den letzten DAS HAUS ZAMIS-Romanen thematisiert wurden? Sollte die X-Ray-Röntgenbrille uns vielleicht die Augen für eine ganz andere Wirklichkeit öffnen? Einer, der diese Erfahrung machte, war der vierzehnjährige Heinz-Joseph:

Es nieselte. Der Himmel war herbstgrau. Heinz-Joseph fuhr mit der Straßenbahnlinie 71 die Simmeringer Hauptstraße entlang. In dieser tristen Wohngegend, die zum Wetter wie die Faust aufs Auge passte, wohnten Menschen, die sich keine besseren Wohnungen leisten konnten als in den grauen vier- bis fünfstöckigen Mietshäusern entlang der Straße.

Er, der in einer feinen Villengegend aufwuchs, hatte sich bewusst hierherbegeben, damit man ihn nicht erkannte, wenn er seine neu erworbene X-Ray-Röntgenbrille ausprobierte. Er hatte schon länger damit geliebäugelt, wenn er am Ende des neuesten Dämonenkiller-Heftes die Seite mit den Kleinanzeigen aufschlug. Aber er hatte nicht gewagt, sie zu bestellen, weil er Sorge trug, seine Eltern würden die Post abfangen. Schließlich hatte er einen Schulkameraden bestochen, damit der die Brille für ihn bestellte.

Die Straßenbahn war hauptsächlich besetzt mit älteren Frauen, die zum Zentralfriedhof fuhren. weshalb man diese Linie auch Gießkannen- oder Witwenexpress nannte.

Endlich, endlich stieg auch mal ein junges Mädchen ein. Es war wunderschön, hatte lange schwarze Haare und trug einen Minirock.

Heinz-Josephs Mund wurde trocken. Er konnte sein Glück kaum fassen, als sie sich auch noch genau auf den Platz ihm gegenüber setzte und ihm ein freundliches Lächeln schenkte.

Die Straßenbahn fuhr ruckelnd wieder an.

Er hatte schweißnasse Hände, als er die Brille aus der Tasche seines Parkas nestelte und sie sich aufsetzte.

Und dann – unterdrückte er nur mit Mühe einen Schrei.

Die Brille zeigte ihm eine ganz andere Wirklichkeit: Das Mädchen hatte die runzlige Haut einer Greisin. Über ihre Lippen ragten zwei nadelspitze Vampirhauer.

Heinz-Joseph atmete schwer. Seine Blicke suchten nach einem Ausweg. Aber überall sah er nun die Dämonen:

Zwei Sitze weiter belauerte ein Vampir den welken Hals einer alten Frau. Vielleicht würde er sie verfolgen und aussaugen, wenn sich eine günstige Gelegenheit ergab. Wenn sie Glück hatte, kam sie heute vielleicht noch mit dem Leben davon.

Auf einer anderen Frau – einer alten abgehärmten Dame – saß ein Aufhocker, der genauso ausgezehrt aussah wie sein Opfer. Er hatte mehrere Saugrüssel in das Fleisch der Frau verankert und zehrte von ihr.

Heinz-Joseph wurde schlecht. Am ganzen Körper brach ihm jetzt der Schweiß aus. Zudem konnte er dank der Brille nicht nur die Dämonen erkennen – all seine Sinne waren geschärft: Er hörte das Flüstern und Schmatzen der dämonischen Mitfahrer, roch den Gestank der Leichen, die in dieser Bahn während des Krieges zum Zentralfriedhof transportiert worden waren. Und auch den Duft verwelkter Trauerkränze …

„Ist dir nicht gut?“

Die Vampirin hatte sich zu ihm gebeugt.

Heinz-Joseph schrie auf.

Er schrie auch noch, als er an der nächsten Station fluchtartig aus dem Wagen stürzte, blindlings über die Straße lief und von einem Leichenwagen erfasst wurde …